Abtreibung bei wahrscheinlicher Behinderung? (Folge 31, Teil 4)

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Die Ketzer diskutieren Richard Dawkins‘ Empfehlung, Föten mit wahrscheinlicher Behinderung abzutreiben.

Der Podcast hier abonniert werden, die Folge kann hier heruntergeladen oder direkt angehört werden:

In diesem Segment interviewen wir auch unser Gründungsmitglied Sigrid, die wegen einer schweren Krankheit mittlerweile leider nicht mehr mitketzern kann. Das Interview mit ihr gibt es auch separat bei YouTube:

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21 Antworten to “Abtreibung bei wahrscheinlicher Behinderung? (Folge 31, Teil 4)”

  1. Manuel Says:

    Hallo liebe Ketzer! Gerne würde ich euch fragen, wie viel Zeit Ihr schon mit Menschen mit (schweren) Behinderungen verbracht habt, um den Generalverdacht des „Leidens“ so selbstverständlich zu unterstellen und ihn als Argument gegen das Leben anzuführen. Sollte die Antwort darauf „so gut wie keine“ sein, empfände ich jegliche Äußerung in Bezug auf die Bewertung von Lebensqualität anderer Menschen als ziemlich arrogant. Ich weiß gar nicht, was ich in diesem Kommentar zuerst schreiben soll, weil eure Argumentationen auf so vielen Ebenen fatal sind. Das war so eine Diskussion, die man gehört hat und sich wünschte, selbst daran teilhaben zu dürfen, um jedes einzelne Argument sofort zu dekonstruieren. Deshalb hoffe ich einfach nur inständig, dass dies nicht der Weg ist, den der moderne Humanismus einschlagen wird. Sonst suche ich mir irgendwann freiwillig eine Religion. Viele Grüße aus Bayern, Manuel
    P.S. Eigentlich finde ich euren Podcast ganz unterhaltsam

    • Bilbo Beutlin Says:

      „um jedes einzelne Argument sofort zu dekonstruieren“

      nimm dir doch mal eines, und fang damit an, würde eine Diskussion hier in den Comments begrüßen :]

      Wenn du nicht weisst welches, nimm einfach das chronologisch erste oder letzte!

      • Manuel Says:

        „Die Abtreibung eines Fötus vor der 24. SSW. ist gerechtfertigt, um dem hier entstehenden Leben Leid zu ersparen“. Ausgehen tut man ja anscheinend hier von der Trisomie 21, also woher weißt du, dass jemand mit Trisomie 21 leidet? Und du solltest es wirklich ganz genau wissen, denn immerhin geht es hier um leben oder nicht leben, also keine allzu banale Frage. Solltest du dir nicht ganz sicher sein, dass diese Person wirklich ein seht leidvolles Leben haben wird, dann solltest du ihm vielleicht besser eine Chance geben… Wäre ja blöd, wenn er am Ende doch irgendwie glücklich geworden wäre… im Zweifel für den Angeklagten, würde ich sagen 🙂

      • Bilbo Beutlin Says:

        „Solltest du dir nicht ganz sicher sein, dass diese Person wirklich ein seht leidvolles Leben haben wird, dann solltest du ihm vielleicht besser eine Chance geben…“

        Das ist die Kernfrage der Diskussion: welche Entscheidung sollte man in dieser Situation treffen, die zu einem Zeitpunkt getroffen werden muss, an dem mehrere zukünftige Verläufe möglich sind.

        Deine Meinung lässt sich verstehen als eine Gewichtung zukünftiger Verläufe, in der die gut ausgehenden Verläufe so stark gewichtet sind, dass sie maßgeblich für die Entscheidung sind.

        Dies ist einer von mehreren bekannten Ansätzen. Die verschiedenen Ansätze hier erneut gegenüberzustellen finde ich nicht interessant und würde es auch nicht als „Dekomposition“ anderer Ansätze bezeichnen.

        Einen interessanten Punkt hast du evtl. noch genannt, in deinem letzten Satz „im Zweifel für den Angeklagten“. Eine Abtreibung ist ein aktiver Move, und deine Anmerkung führt auf die grundsätzliche Frage, ob der Mensch „berechtigt“ ist, oder ob es sinnvoll ist, aktiv einzugreifen, unabhängig davon wie mögliche Ausgänge zu gewichten sind.

        Um diese Frage zu beantworten, stellen wir uns einfach den allerschlimmsten Ausgang vor, der passieren kann. Möchte ich diesen vermeiden? Ja. Wenn ich obige Frage (darf man eingreifen) mit nein beantworte, habe ich keine Chance ihn zu vermeiden. Von daher treffe ich für mich die Entscheidung: ja man sollte eingreifen dürfen. Für mich gilt es also nurnoch eingangs erwähnte Gewichtung vorzunehmen.

      • Manuel Says:

        „…die zu einem Zeitpunkt getroffen werden muss, an dem mehrere zukünftige Verläufe möglich sind.“

        Bei einer angenommenen Diagnose „Trisomie 21“ sind natürlich unterschiedliche Verläufe möglich: wie bei jedem anderen Menschen auch. Was genau, welche Erfahrung, spricht dafür, dass die Wahrscheinlichkeit eines „ungünstigen“ Verlaufes so gravierend ist, dass sich daraus eine Abtreibung legitimiert?

        „Deine Meinung lässt sich verstehen als eine Gewichtung zukünftiger Verläufe, in der die gut ausgehenden Verläufe so stark gewichtet sind…“

        Nein, ich gewichte nicht nach „gut“ oder „schlecht“ weil ich nicht der Meinung bin, dass es sinnvoll ist, diese extrem subjektiven und von den eigenen Wertevorstellungen abhängigen Begriffe als Basis für eine solche Entscheidung zu nutzen. Ich gewichte höchstens nach „Entwicklungspotenzial schaffend“ oder „Entwicklungspotential verhindernd“. Ich glaube, dass wir gut daran tun, in einer Gesellschaft zu leben, die ihre Ressourcen auf ersteres fokussiert. Leben verhindern bedeutet Entwicklungschancen (nämlich genau dieses Lebens) zu verhindern. Warum sollte man das tun? Weil der betreffende Mensch evtl. nicht eurer Idee von Lebensqualität entspricht?

        „…stellen wir uns einfach den allerschlimmsten Ausgang vor, der passieren kann. Möchte ich diesen vermeiden?“

        Was für ein Szenario meinst du hier ganz konkret, wie sieht der allerschlimmste Ausgang deiner Meinung nach aus?

        „… treffe ich für mich die Entscheidung: ja man sollte eingreifen dürfen.“

        Sollte man das nur im allerschlimmsten Fall (den du noch erläutern müsstest) oder vielleicht auch im zweitschlimmsten Fall? Wenn ja, wie sähe dieser aus?

      • Skydaddy Says:

        @Manuel:

        Ich denke, Deine Grundfrage habe ich im Podcast ausführlich beantwortet. Warum ist ein Leben mit Behinderung oder Krankheit weniger erstrebenswert als eines ohne? Weil man sonst nicht von Krankheit oder Behinderung sprechen würde, und weil in jedem anderen Fall mit nicht unerheblichem Aufwand versucht wird, zu verhindern, dass jemand krank oder behindert wird. Niemand würde z.B. sein Kind nicht gegen Kinderlähmung impfen lassen, weil das Kind ja auch MIT Lähmung ein glückliches Leben führen KÖNNTE.
        Und egal, wie schwer man die wahrscheinliche Einschränkung gewichtet: Wenn man davon ausgeht, dass ein Fötus nichts wahrnimmt und keine eigenen Interessen hat, dann überwiegt prinzipiell die Vermeidung zukünftigen wahrscheinlichen Leids gegenüber der leid-losen Abtreibung.

        Was Du – ich vermute, ohne groß darüber nachzudenken und offenbar völlig pauschal – als Entscheidung „für den Angeklagten“ bezeichnest, betrachte ich als potenzielle Entscheidung „gegen“ den Angeklagten – der nämlich später wahrscheinlich erhebliche Einschränkungen, Leid und/oder Schmerz ertragen muss.

        Dein Kriterium ist, soweit ich es sehe, der Erhalt menschlichen Lebens. Auch darauf bin ich, meine ich, im Podcast ausführlich eingegangen. Als Faustregel hat sich der Erhalt von Leben sicherlich bewährt, aber in Grenzfragen wie beim selbstbestimmten Sterben oder hier bei einem wahrscheinlich behinderten Kind müssen solche Faustregeln hinterfragt werden. Am Beispiel „Sterben“ zeigt sich, dass das eigentliche Kriterium eben nicht der Erhalt von Leben um jeden Preis ist, sondern, dass es um Selbstbestimmung und lebenswertes Leben geht – und damit meine ich, dass der Betreffende SELBST sein Leben als lebenswert empfindet, ich will da niemandem etwas vorschrieben.

        Das Problem bei der vorgeburtlichen Diagnostik ist natürlich, dass der Fötus nicht selbst entscheiden kann. Es muss aber eine Entscheidung getroffen werden (auch die Entscheidung, nicht abzutreiben oder gar nicht erst eine Untersuchung durchführen zu lassen, ist ja bereits eine Entscheidung).

        Wer hier keine Entscheidung zu „Lasten“ des späteren Kindes fällen will, verhält sich m.E. unstimmig. Erstens kann sich durchaus herausstellen, dass es eben gerade die Entscheidung gegen die Abtreibung ist, die später „zu Lasten“ des Kindes geht – folglich muss man eben doch wieder abwägen, wie wahrscheinlich eine spätere Beeinträchtigung ist, und kann nicht einfach „das Beste hoffen“ und DEM KIND das Risiko zumuten.

        Zweitens: Wer keine Entscheidung über das Leben anderer treffen will soll dann bitte überhaupt nicht erst Kinder zeugen. Aber ERST ein Kind zeugen und DANN, wenn sich herausstellt, dass es wahrscheinlich (nicht: zwingend) leiden wird, zu argumentieren, man wolle nicht über das Leben des Kindes entscheiden, erscheint mir sehr undurchdacht.

        In diesem Zusammenhang fiel mir ein: Wie stehen denn die hier mit Diskutierenden zum Inzestverbot? Das erscheint mir eine ganz ähnliche Problematik zu sein, die allerdings noch VOR der Zeugung ansetzt: Inzest ist m.W. deshalb verboten, weil „Inzucht beim Menschen das Auftreten von Erbkrankheiten – verbunden mit anfälliger Gesundheit – erhöht.“ (Wikipedia) Mit dem Argument, „Vielleicht passiert ja nichts, und wenn doch, können die Kinder ja immer noch glücklich sein“ müsste dann, soweit ich das sehe, dann auch das Inzuchtverbot angegriffen werden.

      • Bilbo Beutlin Says:

        Ok, also wenn ich dich richtig verstanden habe, nimmst du keine Gewichtung vor, d.h. dir ist völlig egal wie die Chancen stehen für einen guten und schlechten Ausgang, und welche Intensität das Leid eines schlechten Ausganges möglicherweise annehmen könnte – für dich zählt allein, dass immer ein guter Ausgang möglich ist und deswegen sollte man nie abtreiben.

        Dann stellen wir die Gewichtungsfrage mal zurück, und diskutieren die Frage, auf die deine Position hinausläuft:
        sollte man aktiv eingreifen, unabhängig davon wie mögliche Ausgänge zu gewichten sind.

        Deine Antwort: Nein
        Deine Begründung: „Ich glaube, dass wir gut daran tun, in einer Gesellschaft zu leben, die ihre Ressourcen auf ersteres [‚Entwicklungspotential schaffen‘] fokussiert.“

        Für mich ist „Entwicklungspotential schaffen“ nicht das oberste erstrebenswerte Ziel. Ich bin durchaus bereit, dieses unter Umständen zurückzustellen, z.B. hinter „Leid vermeiden“.

        Ich würde also zukünftige Ausgänge gewichten, um zwischen diesen entgegengesetzten Wünschen zu entscheiden, aber eine Gewichtung hatten wir ja auf deinen Wunsch zurückgestellt.

        Meine Position zu obiger Frage „darf man eingreifen, unabhängig davon wie mögliche Ausgänge zu gewichten sind“ hatte ich ja schon in meinem letzten Posting geäußert, dazu hattest du einige Fragen:

        „Was für ein Szenario meinst du hier ganz konkret, wie sieht der allerschlimmste Ausgang deiner Meinung nach aus?“

        Zwei Möglichkeiten:
        1) Du stimmst zu, dass es Verläufe gibt, die man lieber verhindern möchte.

        Wenn du mir hier zustimmst, dann meine ich genau so einen.

        2) Du sagst, es gibt überhaupt keinen Verlauf, der zu verhindern ist, alle sind Spitze!!

        Dagegen stehen Aussagen Betroffener selber, eine davon ist in diesem Podcast zu finden.

      • Manuel Says:

        „Warum ist ein Leben mit Behinderung oder Krankheit weniger erstrebenswert als eines ohne?“

        Die Begriffe Krankheit und Behinderung sollten grundsätzlich nicht als Synonyme füreinander verwendet werden. Bei einer Krankheit handelt es sich um einen zumeist klar definierten, medizinischen Zustand, der als Gegenwert „gesund“ hervorbringt. Behinderung kann als Resultat einer Krankheit entstehen, ist aber extrem variabel in seinen Erscheinungsformen und immer abhängig zum Kontextsystem desjenigen, der als behindert bezeichnet wird. Ich bin deshalb behindert, weil ich bestimmte Anforderungen, die im täglichen Leben an mich gestellt werden, aufgrund einer körperlichen Einschränkung nicht oder nicht in dem Umfang bewältigen kann, wie es jemand ohne diese Einschränkung tun könnte. Der Rollstuhlfahrer kann mit den Treppen vorm Hauseingang nicht viel anfangen, er ist in dieser Situation dann behindert. Leg ihm eine Rampe hin und er ist diese Behinderung spontan los – nicht die (medizinische) Lähmung, aber die Behinderung (seines Vorhabens, die Tür zu erreichen). Dieses sehr einfache Beispiel lässt sich nun endlos bis in die engsten Verzahnungen gesellschaftlichen Lebens fortführen, bis eindeutig wird, dass der Begriff Behinderung zunächst einmal nichts weiter ist als ein soziales Konstrukt. Deshalb sollte er nie gleichberechtigt mit dem Wort Krankheit verendet werden, dessen Konnotationen mit dem Begriff der Behinderung kollidieren, z.B. die der Schmerzen, des Leids usw.
        Behinderung ist nicht erstrebenswert? Natürlich nicht! Aber Behinderungen zu vermindern ist eine gesellschaftliche Aufgabe, dort hinein ist dieses Ziel zu verorten. Krankheit ist nicht erstrebenswert? Selbstverständlich nicht! Dies zu bewältigen ist Aufgabe der Medizin, und die sollte sich am besten mit lebenden Menschen befassen, das ist m.E. ihre Kernaufgabe.

        „…Kinderlähmung impfen lassen, weil das Kind ja auch MIT Lähmung ein glückliches Leben führen KÖNNTE.“

        Dieses Beispiel hinkt. Die Tatsache, dass ich mit einer Impfung eine Lähmung verhindern kann, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, dass ein Leben mit Lähmung grundsätzlich nicht lebenswert ist und damit per se zu verhindern wäre (das Leben). Wieso sollte man so eine Kausalkette als gegeben voraussetzen? Eine gute Freundin von mir sitzt im Rollstuhl und würde ihre Lähmung natürlich gerne loswerden, aber nicht um den Preis, nie gelebt zu haben.
        Abgesehen davon geht es ja bei der Polio-Impfung darum, bei einem bereits lebenden Menschen eine potentiell tödliche Viruserkrankung zu vermeiden. Das ist Aufgabe der Medizin, die den Status „gesund“ anstrebt. Wie die Gesellschaft bemüht sein sollte, Barrieren abzubauen und damit Behinderungen zu vermindern, so sollte die Medizin bemüht sein, Krankheiten zu verhindern – jedoch nicht den Menschen! Die Medizin hat hier m.E. ihre klare Aufgabe, nicht mehr und nicht weniger.

        Leute ich habe jetzt ein ganz anderes Problem: Ich mache das alles hier über mein iPhone, weil ich gerade keinen festen Rechner habe. Das ist wahnsinnig anstrengend, ich kann der Komplexität dieser Diskussion auf diese Weise nicht gerecht werden (schon allein wegen des umständlichen Tippens). Ich würde aber wirklich gerne noch auf die vielen anderen Dinge eingehen, die ihr geschrieben habt. Im Laufe der kommenden Woche bekomme ich mein neues MacBook, dann kann ich wieder gescheit Texte verfassen. So lange muss ich mich leider ausklinken, es nimmt sonst zu viel Zeit in Anspruch. Ich hoffe ihr habt Verständnis, ich melde mich in ein paar Tagen, wenn ich meinen Rechner hab. Viele Grüße bis dahin.

  2. Amazone Says:

    @Manuel:
    Ich verbringe mein ganzes Leben mit einem Menschen mit schwerer Behinderung, nämlich mit mir (von mir stammt das Interview).
    Nun frage ich mich, wo du gehört hast, dass wir GENERELL Leiden unterstellt haben. Sofern ich mich erinnere, haben wir immer nur von der Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit gesprochen.
    Und ich frage mich, auf welcher Grundlage du über mein Leben und meine Lebensqualität urteilst. Ich finde nämlich genau DAS sehr anmaßend und arrogant. „Humanisten“, die mir vorschreiben wollen, mein Leben als lebenswert zu beurteilen. Das brauche ich nicht.

    • Manuel Says:

      „Nun frage ich mich, wo du gehört hast, dass wir GENERELL Leiden unterstellt haben.“

      Nicht explizit, aber implizit, z.B. hier
      „Wenn du ohne Leid den Fötus abtreiben kannst, und kannst ihm dafür späteres Leid ersparen, dann ist die Situation eigentlich klar…“ (4:24)

      „Aber der Punkt ist ja, wenn du jetzt zu dem Schluss kommst, dass es ethisch geboten ist, das Kind abzutreiben, und dass es hier darum geht, schlimmes Leid zu vermeiden, dann kannst du dich ja nicht einfach zurücklehnen und sagen ‚ja die Eltern sollen das mal selber entscheiden‘, dann entscheiden sie es halt emotional und dann kommen die leidenden Kinder auf die Welt…“ (23:53)

      Eine Prämisse, die hier offenbar völlig undifferenziert im Raum steht, lautet:
      Behinderung = Leid. Man kann das als Syllogismus weiterführen und ableiten:
      Person X ist behindert. Schlussfolgerung: Person X leidet. Person X hat also schon im Vorfeld gar keine andere Wahl als zu leiden, wenn bei ihm eine Behinderung festgestellt wird. Eine andere Lebensoption steht ihm offenbar nicht mehr zur Verfügung, zumindest dann nicht, wenn sein Leben aufgrund dieser Schlussfolgerung und evtl. daraus gezogener Konsequenzen (Abtreibung) gar nicht erst stattfindet.

      „Und ich frage mich, auf welcher Grundlage du über mein Leben und meine Lebensqualität urteilst.“

      Ich urteile weder über dein Leben noch über deine Lebensqualität. Aber ich finde es problematisch, wenn deine Erfahrungen hier induktiv angewendet werden, um unterschwellig ein generelles Bild vom „leidenden Behinderten“ zu zeichnen. Die Tatsache, dass du diese Erfahrungen machst, bedeutet noch lange nicht, dass andere sie auch machen. Ich habe seit meiner Geburt eine fortschreitenden Augenerkrankung, die mich bis zu meinem 40. Lebensjahr aller Voraussicht nach vollständig erblinden lässt. Sie ist genetisch bedingt. Ich verliere von Jahr zu Jahr mehr Augenlicht. Du kannst mir glauben, dass dies eine ganze Palette unterschiedlichster Probleme mit sich bringt, absolut kein Zuckerschlecken. Ich kann mich zum jetzigen Zeitpunkt ohne Blindenstock oft nicht mehr fortbewegen. Hätte man das Interview mit mir geführt, hätte ich allerdings völlig andere Aussagen in Bezug auf die Einschätzung meines Lebens und seiner Wertigkeit gemacht. Und damit kommen die großen Fragen: Wer von uns beiden hat Recht? Wer kann aufgrund seiner Erfahrung ein ethisches Urteil über die Lebensqualität anderer (nicht der eigenen!) fällen? Wer darf entscheiden, wie viel Leid noch lebenswert ist und wie viel nicht mehr? Wer ist kompetent genug dazu?
      Es könnte sein, dass wir es beide nicht sind. Es könnte sein, dass es vielleicht niemand wirklich ist. Am Ende ist die Frage wohlmöglich unentscheidbar. In einem solchen Fall scheint es mir dann sinnvoll, den gesellschaftlichen Diskurs eher darauf auszurichten, die unterschiedlichen „Spielarten des Lebens“ anzuerkennen und ihnen eine Infrastruktur der Förderung zur Verfügung zu stellen, welche es Ihnen grundsätzlich erlaubt, sich in ihrer Individualität bestmöglich zu entwickeln… Keine Infrastruktur des Verhinderns, des Selektierens. Auf diese Weise können wir uns wenigstens etwas sicherer sein, dass keine Tür aufgemacht wird, die wir nicht offen haben wollen. Denn ist ein Tabu gebrochen, ist das nächste meistens schon angekratzt: Wer garantiert mir, dass übermorgen nicht jemand auf die Idee kommt, meine Lebensberechtigung anzuzweifeln? Immerhin bin ich behindert, und leide, und das ist ja für keinen Beteiligten schön… oder?

      • Skydaddy Says:

        Hi Manuel,

        wie ich ebenfalls im Podcast deutlich gemacht habe, ergibt sich aus den Kriterien, die ich anlege – Leidvermeidung und Selbstbestimmung – gerade, dass GEBORENE Menschen natürlich unterstützt werden müssen. Es soll jeder SEBST bestimmen, ob er sein Leben lebenswert findet oder nicht. da hat niemand anders drüber zu befinden. Daher kann der Einwand der „schiefen Bahn“/“Wehret den Anfängen“/“Slippery Slope“ m.E. nicht gelten.

        Nur bei den Föten (oder ggf. bei einer nicht mehr ansprechbaren Person, die keine Patientenverfügung hinterlegt hat) muss die Entscheidung durch andere erfolgen, beim Fötus naturgemäß durch die Eltern.

        PS: Vielen Dank, dass Du unseren Podcast so aufmerksam hörst.

      • Skydaddy Says:

        @Manuel:

        Mal was anderes: Gibt es Dinge, wie wir hier auf dem Blog oder im Podcast hinsichtlich der „Barrierefreiheit“ verbessern können?

      • Amazone Says:

        @Manuel:

        Du hast in deinem ersten Posting unterstellt, „wir“ würden nicht viel Zeit mit Behinderten verbringen, was uns deiner Meinung ausschlaggebend für unsere Ansicht sei. Deshalb habe ich auf meine Erkrankung hingewiesen. Ich bin es nämlich leid, von GESUNDEN und unbeteiligten Menschen zu hören, dass MEIN Leben lebenswert zu sein hat. Nun bist du allerdings in einer ähnlichen Lage, und natürlich billige ich dir dasselbe zu was ich mir gegenüber erwarte: Als Betroffener entscheidest du selbst, ob dein Leben für dich einen Wert hat.

        Denn ist ein Tabu gebrochen, ist das nächste meistens schon angekratzt: Wer garantiert mir, dass übermorgen nicht jemand auf die Idee kommt, meine Lebensberechtigung anzuzweifeln?

        Das oft gehörte Slippery-Slope-Argument, wird auch gerne im Zusammenhang mit Sterbehilfe Gebracht. Niemand zweifelt die Lebensberechtigung von GEBORENEN Menschen an, ob krank oder gesund.

        In einem solchen Fall scheint es mir dann sinnvoll, den gesellschaftlichen Diskurs eher darauf auszurichten, …. eine Infrastruktur der Förderung zur Verfügung zu stellen, welche es Ihnen grundsätzlich erlaubt, sich in ihrer Individualität bestmöglich zu entwickeln

        Das klingt natürlich toll und jeder würde es unterschreiben. In diese Richtung geht auch die Beschönigung, man nimmt statt „Behinderter“ die Bezeichnung „Mensch mit besonderen Bedürfnissen“ oder „Individualität“ (wie du es nennst) und schon klingt es weniger schlimm. Aber die Realität sieht anders aus. Wenn ein Gesunder das sagt, frage ich immer, was konkret ER dafür tut. Spendet er für Invalide? Engagiert er sich politisch? Ich hoffe du musstest noch nicht erleben, dass „die Gesellschaft“ (der Staat) weitaus nicht genug dafür tut, ein Leben mit erheblicher körperlicher Einschränkung zu fördern. Die verzweifelten privaten Spendenaufrufe im Rahmen von Behindertenverbänden, wenn das Geld nicht für den behindertengerechten Wohnungsumbau reicht, sprechen für sich selbst.

        Mir ist schon klar, dass nicht alle Behinderten auch leiden, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kranker leidet, ist deutlich höher, als dass ein Gesunder leidet. Die behinderten Menschen, mit denen ich zu tun habe, leiden jedenfalls erheblich. Insofern wäge ich ab: Das wahrscheinliche Leid eines Menschen gegen das sichere „Nicht-Leiden“ eines Zellgewebes. Immerhin ist die Entstehung eines Menschen ein ziemliches Zufallsprodukt, es gibt fast unendlich viele mögliche Kombinationen von Menschen, die NICHT geboren worden sind, weil die Samenzellen nicht „zum Zug“ gekommen sind. Sie entscheiden sich nur durch wenige Wochen vom Zellgewebe zu Beginn der Schwangerschaft.

        Da du dich hier so vehement gegen die Abtreibung aussprichst, nehme ich an, dass du genereller Abtreibungsgegner – auch im Rahmen der Fristenregelung – bist. Oder bist du der Meinung, ein vermutlich behinderter Fötus hätte eher ein „Recht auf Leben“ als einer, der abgetrieben wird, weil der Schwangerschaft den Eltern gerade sehr ungelegen ist?

    • Skydaddy Says:

      @Manuel:

      Wir haben offenbar beide zur gleichen Zeit geantwortet. Ich habe Deine Frage oben beantwortet: Krankheit und Behinderung sind quasi per Definition weniger erstrebenswert als ihre Abwesenheit. Das habe ich auch im Podcast ausführlich deutlich gemacht. Du würdest Dich doch vermutlich auch gegen die üblichen Risiken impfen lassen, oder guckst nach links und rechts, bevor Du über die Straße gehst – anstatt es drauf ankommen zu lassen, denn auch mit Krankheit und Behinderung kann man ja noch glücklich sein.

      PS: SORRY, ich hatte Deinen Beitrag noch nicht zu Ende gelesen, wollte Dich aber auf meine Antwort im anderen Kommentar hinweisen – das mit dem nach links und rechts gucken passt wohl nicht so gut, aber ich denke, es wird klar, was ich meine.

      • Manuel Says:

        @Skydaddy und Amazone

        Ich hoffe ihr habt mein letztes Posting gelesen, ich halte mich gerade nur deshalb zurück, weil ich keinen gescheiten Computer habe, nicht weil man eure Aussagen in den letzten Beiträgen so stehen lassen kann (und sollte).
        Nichts für ungut 🙂

  3. Sake Says:

    Interessante Diskussion, schwierige Frage!

  4. BrEin Says:

    Vielleicht interessiert euch das ja auch:

    Abtreibungsgegner demonstrieren in Berlin
    Gott allein entscheidet
    http://detektor.fm/gesellschaft/kundgebung-abtreibungsgegner-demonstrieren-berlin

    Gruß
    Fabian

  5. Manuel Says:

    Ok, ein paar Dinge waren noch offen, zu denen ich mich äußern wollte:

    „Wenn man davon ausgeht, dass ein Fötus nichts wahrnimmt und keine eigenen Interessen hat, dann überwiegt prinzipiell die Vermeidung zukünftigen wahrscheinlichen Leids gegenüber der leid-losen Abtreibung.“

    Ich kann es an dieser Stelle nur wiederholen und werde dies weiterhin tun, solange ihr die Diagnose einer möglichen Erkrankung mit dem Begriff „Behinderung“ und „Leid“ gleichsetzt: Es ist schlichtweg falsch anzunehmen, dass ein Mensch mit Krankheit oder Behinderung grundsätzlich leidet und es ist genauso falsch anzunehmen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Leidens sich erhöht bzw. dieses Leid einen unverhältnismäßig hohen Anteil einnimmt gegenüber den möglichen Leiden eines „gesunden“ Menschen.

    Solange ihr eine solche Prämisse (mögliches Leid vermeiden) als gegeben voraussetzt, könnte ich eure Sichtweisen sogar nachvollziehen (zumindest theoretisch), sie entbehrt jedoch jeglicher täglicher Erfahrung im Umgang mit kranken oder behinderten Menschen. Der Wille zum Leben ist um ein Vielfaches höher ausgeprägt als der Wille, nicht zu leben. Daran kann auch euer Beispiel mit Sigrid nichts ändern und eine induktive Nutzung ihrer Aussagen ist eine Verhöhnung jedes einzelnen Menschen, der trotz einer Krankheit oder Behinderung leben möchte und sich NICHT wünscht, nie gelebt zu haben.

    „Wer hier keine Entscheidung zu “Lasten” des späteren Kindes fällen will, verhält sich m.E. unstimmig. Erstens kann sich durchaus herausstellen, dass es eben gerade die Entscheidung gegen die Abtreibung ist, die später “zu Lasten” des Kindes geht – folglich muss man eben doch wieder abwägen, wie wahrscheinlich eine spätere Beeinträchtigung ist, und kann nicht einfach “das Beste hoffen” und DEM KIND das Risiko zumuten.“

    Auch hier wieder die gleiche argumentative Grundlage: Leben mit Behinderung = Chancen von Leid erhöhen sich, demzufolge trage ich Rechenschaft über das Leben, dem ich hier Entwicklung ermögliche. Ich nehme exemplarisch die Trisomie 21 und das mag sich für euch seltsam anhören aber nein, Menschen mit Down-Syndrom leiden in ihrem Leben nicht mehr oder weniger als jeder andere Mensch, der in seinem Leben diverse Höhen und Tiefen erlebt. Und nein, Menschen mit Down-Syndrom haben auch keine erhöhten Risiken, an ihrer Erkrankung in einem Umfang zu leiden, der ihr Leben nicht mehr lebenswert macht. Ihr habt da ein völlig verdrehtes Bild von Behinderung und ich weiß nicht, wie viele Menschen mit Behinderung (oder explizit Down-Syndrom) ihr kennt, um dieses Bild zu bestätigen?

    Also, eine Entscheidung gegen ein Leben mit Trisomie 21 ist eine grundsätzliche Entscheidung gegen ein Leben, nicht mehr und nicht weniger. Gleiches gilt für unzählige andere Syndrome und Erkrankungen auch. Du willst wirklich im Vorfeld die Verantwortung dafür übernehmen, anhand welcher Kriterien auch immer, abzuwägen, ob ein Leid überwiegt und ein Leben nicht mehr lebenswert ist z.B. bei

    Asperger-Autismus
    Frühkindlichem Autismus
    Fragilem X-Syndrom
    Agelman-Syndrom
    Chorea Huntington
    West-Syndrom
    Multiple Sklerose
    Rheuma
    Depressionen u.a. psychischer Erkrankungen
    erhöhter Infektanfälligkeit
    erhöhtes Schlaganfall, – oder Herzinfarktrisiko
    Diabetes
    Makuladegeneration, auch juvenil
    erhöhtes Risiko für Krebsleiden jeglicher Art
    Mukoviszidose

    und viele, viele Erkrankungen mehr, die man (wenn auch noch nicht heute) zumindest theoretisch mit einer vorgeburtlichen Diagnostik feststellen könnte. Ich fürchte, da hat man irgendwann jede Menge zu tun, so lange abzutreiben, bis das perfekt gesunde Kind entsteht. Du kannst sicherlich genauestens angeben, bei welcher Erkrankung man weiß, dass das potentielle Leid hier dem Lebenswillen überwiegt? Wie wäre es mit einem „Katalog der nicht-mehr lebenswerten und noch-lebenswerten Krankheiten“?
    Übrigens: das Wort „Leid“ sagt natürlich nichts darüber aus, ob ein anderer Mensch u.U. wirklich leidet, sondern darüber, was DU unter Leid verstehst. Einhergehend mit der ganzen Entscheidungsmisere drückst du also auch noch jemand anderem Deine Definition von Leid auf, bevor dieser überhaupt gelebt hat.

    „Wie stehen denn die hier mit Diskutierenden zum Inzestverbot? Das erscheint mir eine ganz ähnliche Problematik zu sein, die allerdings noch VOR der Zeugung ansetzt:“

    Das Inzestverbot ist mir egal. Wenn jemand das (zugegebenermaßen extrem seltsame und schwer nachvollziehbare) Bedürfnis hat, mit der eigenen Verwandtschaft (einvernehmlich!) ins Bett zu springen, dann soll er / sie doch. Ich finde nicht, dass es hier einer gesetzlichen Regelung bedarf. Diese Fälle sind so dermaßen selten und wenn sie stattfinden, dann unter einer psycho-sexuellen Dynamik, bei der die Betroffenen ganz sicherlich nicht über Gesetze nachdenken.

    „Zwei Möglichkeiten:
1) Du stimmst zu, dass es Verläufe gibt, die man lieber verhindern möchte.
    Wenn du mir hier zustimmst, dann meine ich genau so einen.“

    Für mich gibt es nur ein denkbares Szenario, bei dem ein aktives Eingreifen nach der 12. SSW gerechtfertigt ist: Wenn das Leben oder die physische Gesundheit der Mutter in Gefahr ist. Und im extrem seltenen Fall, dass das Kind überleben würde aber die Mutter nicht, wäre es die Entscheidung der Mutter.

    „Du sagst, es gibt überhaupt keinen Verlauf, der zu verhindern ist, alle sind Spitze!!“

    Blödsinn. Ich habe gesagt, dass ich „gut“ und „schlecht“ (oder „spitze“) überhaupt nicht erst als Maßstab für eine Beurteilung dieser Frage ansehe, weil es sich um subjektive Definitionen bzw. von den eigenen Wertvorstellungen abhängige Urteile handelt. Wenn Du den Parameter „Entwicklungspotential“ nicht akzeptierst, dann ist das deine Meinung und dann kommen wir an dieser Stelle auch nicht weiter.

    „Dagegen stehen Aussagen Betroffener selber, eine davon ist in diesem Podcast zu finden.“

    Ihr habt EINE Aussage von EINER Person. Etwas dünn für die steile, subtile These, dass Menschen mit Krankheit und / oder Behinderung eigentlich potentiell eher leiden und deshalb gar nicht erst leben sollten. Zeige mir mehr Aussagen, zeige mir so viele Aussagen, dass sich deine These darauf stützen lässt.

    „gerade, dass GEBORENE Menschen natürlich unterstützt werden müssen… Daher kann der Einwand der “schiefen Bahn”/”Wehret den Anfängen”/”Slippery Slope” m.E. nicht gelten.“

    Er kann aus moralischer Sicht durchaus gelten denn allzu schnell gelangt man in ein gewisses Dilemma: Stell dir vor, du lernst einen Menschen mit Trisomie 21 kennen, der dir sympathisch ist und mit dem du, in welchem Kontext auch immer, etwas Zeit verbringst. Was du ihm nun subtil eigentlich immer entgegenhalten musst, in jeglicher Interaktion mit ihm, ist die Annahme, dass es ihn eigentlich besser gar nicht gegeben hätte und das es, hätte man nur die Chance gehabt, sinnvoller gewesen wäre, sein Leben im Mutterleib zu beenden. Das wirst du ihm natürlich so nicht sagen, wäre ja auch etwas gemein, insofern erweist sich jegliche Interaktion, jeglicher Versuch der Förderung und Integration, zwangsweise als ziemlich scheinheilig. Ok, du hast dieses Dilemma natürlich nicht, weil du vermutlich niemanden kennst mit Down-Syndrom… was im übrigen deine / eure Kompetenz im Umgang mit dieser Thematik ziemlich angreifbar macht. Aber die Gesellschaft hat dieses Dilemma durchaus: Wie kann sie einerseits die Integration von Menschen mit Behinderung als hohes Ziel erklären und andererseits ihre Lebensberechtigung in Frage stellen, solange sie noch nicht geboren sind? Das funktioniert einfach nicht.

    „Das klingt natürlich toll und jeder würde es unterschreiben. In diese Richtung geht auch die Beschönigung, man nimmt statt “Behinderter” die Bezeichnung “Mensch mit besonderen Bedürfnissen” oder “Individualität” (wie du es nennst) und schon klingt es weniger schlimm. Aber die Realität sieht anders aus.“

    Es mag sein, dass DEINE Realität anders aussieht. Die Realität vieler, vieler anderer Menschen mit Behinderung sieht so aus, dass die Behinderung natürlich eine Rolle in ihrem Leben spielt und es nicht unbedingt einfach macht, an gsellschaftlichen Aktivitäten u.ä. teilzunehmen. Und ja, es gibt auch Menschen, die unter ihrer Behinderung leiden. ABER der Generalverdacht, dass die Alternative des Nicht-Lebens als wesentlich angenehmer erscheint, sobald eine Krankheit vorliegt, ist unzulässig. Er stützt sich auf Anekdoten von dir und offenbar einigen deiner Bekannten, nicht aber auf Tatsachen. Und um diese Tatsachen kennen zu lernen schlage ich vor, euch großflächig mit kranken und behinderten Menschen auseinander zu setzen. Ihr wäret erstaunt, auf wie viel Lebenslust ihr trefft. Ich bin mir sicher, die Aussage „Ich möchte lieber nicht geboren sein“ gehört einer absoluten Minderheit an. Zu deiner Bemerkung bezüglich Menschen mit geistiger Behinderung (im Interview) möchte ich an dieser Stelle überhaupt nicht mehr eingehen… sie ist auf so unfassbar vielen Ebenen falsch, dass mir dazu echt grad die Zeit fehlt.

    „Ich hoffe du musstest noch nicht erleben, dass “die Gesellschaft” (der Staat) weitaus nicht genug dafür tut, ein Leben mit erheblicher körperlicher Einschränkung zu fördern.“

    Doch, alles schon erlebt. Allerdings auch das genaue Gegenteil davon.

    „Mir ist schon klar, dass nicht alle Behinderten auch leiden, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kranker leidet, ist deutlich höher, als dass ein Gesunder leidet.“

    Nein, ist sie nicht. Das ist schlichtweg falsch. Du kannst keine der inhaltlichen Bausteine deiner Aussage so pauschalisieren, dass diese Schlussfolgerung dabei als gegeben herauskommt. Definiere „Krankheit“ und „Gesundheit“ und definiere jeden einzelnen Lebenskontext, in welchem diese Zustände vorkommen können. Du wirst feststellen, dass es unmöglich ist, hier eine klare Trennlinie zu ziehen. Jemand mit Trisomie 21 leidet nicht zwangsweise (oder auch möglicherweise) mehr als jeder andere Mensch, gleiches gilt für zig andere Syndrome auch, aber ich wiederhole mich.

    „Die behinderten Menschen, mit denen ich zu tun habe, leiden jedenfalls erheblich“

    Die mit denen ich zu tun habe tun das nicht… jedenfalls nicht mehr oder weniger als die nicht-behinderten Menschen, die ich kenne.

    „Insofern wäge ich ab: Das wahrscheinliche Leid eines Menschen gegen das sichere “Nicht-Leiden” eines Zellgewebes.“

    An dieser Stelle scheint es mir wichtig, auf das „Zellgewebe“ einzugehen, von dem ihr häufiger, auch im Podcast, sprecht. Ein Fötus in der 24. SSW ist alles andere als ein einfaches Zellgewebe. Genauer gesagt ist er in diesem Entwicklungsstadium theoretisch schon außerhalb des Mutterleibes überlebensfähig. Aus diesem Grund muss das Kind bei einer Abtreibung in dieser Phase der Schwangerschaft auch regulär ausgetragen werden, nachdem es mit einer Giftinjektion im Mutterleib getötet wurde. Um den Fall zu verhindern, dass es diese Prozedur überlebt, wird ihm sicherheitshalber vorher noch die Blutzufuhr von der Nabelschnur abgeklemmt. Das ist die Realität einer Spätabtreibung.

    „Da du dich hier so vehement gegen die Abtreibung aussprichst, nehme ich an, dass du genereller Abtreibungsgegner – auch im Rahmen der Fristenregelung – bist.“

    Nein, bin ich nicht. Ich bin dagegen, dass ein Kind nach der 12. SSW aufgrund einer drohenden Behinderung abgetrieben wird. In Deutschland ist dies auch offiziell gar nicht möglich, allerdings inoffiziell, nämlich dann, wenn bei der Mutter eine drohende psychische Belastung angenommen werden kann. In diesem Fall darf das Kind bis zum Tage seiner Geburt (!) bzw. bis zum Einsetzen der Wehen, abgetrieben werden. Und das halte ich für sehr problematisch. Manchmal überleben die Kinder diese Prozedur, googelt mal nach dem berühmten „Oldenburger Baby“.

    Glücklicherweise, und das kann ich schlussendlich sagen, sind die Gesetze in Deutschland jedoch im großen und ganzen akzeptabel: Denn allein die drohende Krankheit oder Behinderung darf kein Kriterium darstellen, dass die Schwangerschaft beendet wird. Jetzt liegt es an den Ärzten, nicht automatisch auch eine psychische Belastung der Mutter zu diagnostizieren, sondern auf die gute (und besser werdende) Infrastruktur hinzuweisen und hinzuleiten, die wir zum Glück in Deutschland haben, um Menschen mit Behinderung aufzunehmen und zu fördern.

    „Mal was anderes: Gibt es Dinge, wie wir hier auf dem Blog oder im Podcast hinsichtlich der “Barrierefreiheit” verbessern können?“

    Dazu kann ich nicht sehr viel sagen, da ich mich hauptsächlich visuell am Rechner bewege… Ich finde die Kommentarstruktur etwas unübersichtlich und das Feature, über neue Posts informiert zu werden, funktioniert bei mir nicht. Aber das hat vermutlich nicht so viel mit der Barrierefreiheit zu tun. Von der W3C gibt es einige Tools, mithilfe man seine Website auf Barrierefreiheit überprüfen kann.

  6. Amazone Says:

    Er kann aus moralischer Sicht durchaus gelten denn allzu schnell gelangt man in ein gewisses Dilemma: Stell dir vor, du lernst einen Menschen mit Trisomie 21 kennen, der dir sympathisch ist und mit dem du, in welchem Kontext auch immer, etwas Zeit verbringst. Was du ihm nun subtil eigentlich immer entgegenhalten musst, in jeglicher Interaktion mit ihm, ist die Annahme, dass es ihn eigentlich besser gar nicht gegeben hätte und das es, hätte man nur die Chance gehabt, sinnvoller gewesen wäre, sein Leben im Mutterleib zu beenden. Das wirst du ihm natürlich so nicht sagen, wäre ja auch etwas gemein, insofern erweist sich jegliche Interaktion, jeglicher Versuch der Förderung und Integration, zwangsweise als ziemlich scheinheilig. Ok, du hast dieses Dilemma natürlich nicht, weil du vermutlich niemanden kennst mit Down-Syndrom… was im übrigen deine / eure Kompetenz im Umgang mit dieser Thematik ziemlich angreifbar macht. Aber die Gesellschaft hat dieses Dilemma durchaus: Wie kann sie einerseits die Integration von Menschen mit Behinderung als hohes Ziel erklären und andererseits ihre Lebensberechtigung in Frage stellen, solange sie noch nicht geboren sind? Das funktioniert einfach nicht.

    Von mir wurde zu diesem Thema alles gesagt, deine Argumente sind nicht neu, sondern großteils Wiederholungen. Eigentlich wollte ich nicht mehr darauf eingehen, aber diesmal kann ICH eine Behauptung deinerseits so nicht stehen lassen, zumal du sie auch noch wiederholt hast: Ich habe NOCH NIE einem kranken Menschen die Lebensberechtigung abgesprochen. Auch habe ich nie behauptet, ein behinderter Fötus hätte kein Lebensrecht, WEIL er behindert ist. Ich habe die Frage aufgeworfen, wie weit ein Fötus überhaupt ein Recht auf Leben haben kann, zumal eine Schwangerschaft innerhalb der gesetzlichen Frist ja jederzeit beendet werden kann. Es ging in der Diskussion bisher auch nicht um Spätabtreibungen – zumindest von meiner Seite. So eine Art der Diskussionsführung ist nicht nur intellektuell unredlich, sondern ich empfinde es auch als unverschämt, meine Aussagen in eine Richtung zu drehen, die die Ideologie eines „unwerten Lebens“ impliziert.

  7. Manuel Says:

    „…deine Argumente sind nicht neu, sondern großteils Wiederholungen.“

    Das sind Eure auch. Euer Hauptargument der Leidvermeidung ist eine altbekannte utilitaristische Annahme, seit Jahrhunderten diskutiert. „Neu“ und „alt“ sind hier also sicher nicht der Maßstab.

    „Ich habe NOCH NIE einem kranken Menschen die Lebensberechtigung abgesprochen. Auch habe ich nie behauptet, ein behinderter Fötus hätte kein Lebensrecht, WEIL er behindert ist.“

    Das stimmt. Du behauptest, dass du dein Leben als leidvoll und wenig lebenswert erachtest. Diese Aussagen werden im Podcast so dargestellt, dass sie eine Verallgemeinerung zulassen und die These stützen, ein kranker oder behinderter Mensch erlebe sein Leben potentiell von ganz alleine als so wenig lebenswert, dass sich daraus die Konsequenz einer vorgeburtlichen Maßnahme zur Verhinderung seines Lebens legitimiert. Es ist die induktive Nutzung deiner Aussagen, die ich für problematisch halte. Nicht mehr und nicht weniger.

    „Ich habe die Frage aufgeworfen, wie weit ein Fötus überhaupt ein Recht auf Leben haben kann, zumal eine Schwangerschaft innerhalb der gesetzlichen Frist ja jederzeit beendet werden kann.“

    Das ist eine wesentlich weitreichendere Fragestellung und eine z.T. neue Baustelle, die unabhängig von der hier vorgegebenen Thematik diskutiert werden muss.

    „Es ging in der Diskussion bisher auch nicht um Spätabtreibungen – zumindest von meiner Seite.“

    Das mag sein, da du aber von Zellgewebe sprichst und im Podcast häufiger die 24. SSW als Entscheidungsgrenze genannt wird, könnte ja beim eher uninformierten Hörer schnell der Eindruck entstehen, ein Fötus in diesem Entwicklungsstadium wäre noch ein solch diffuses Zellgewebe. Darum war es mir ein Anliegen, hier ein etwas deutlicheres Bild von dem zu zeichnen, was eine Abtreibung in dieser Phase bedeutet. Ich denke, das wird im Rahmen einer sohlen Diskussion noch erlaubt sein.

    „…meine Aussagen in eine Richtung zu drehen, die die Ideologie eines “unwerten Lebens” impliziert.“

    Das habe ich weder implizit noch explizit getan. Wenn doch, verrate mir wo, damit ich dazu Stellung nehmen kann.

  8. Amazone Says:

    Du behauptest, ich wäre scheinheilig, wenn ich einen Menschen mit Trisomie 21 fördern wollte, weil ich angeblich annehme, dass sein Leben besser im Mutterleib beendet worden wäre. Damit stelle ich – deiner Meinung nach – seine Lebensberechtigung in Frage bzw. bewerte sein Leben als nicht lebenswert. Mit dem Dammbruchargument – ein logischer Fehlschluss – hast du mehrmals „argumentiert“, dass daher als nächstes kranken Menschen nach dem Leben getrachtet werden könnte. Du hast mir/uns moralisch abgesprochen, das Beste für – GEBORENE – Behinderte zu wollen, allein aufgrund der Tatsache, dass ich (und vermutlich Skydaddy) im Fall, dass wir betroffen wären, entscheiden würden, einen Fötus mit schwerer Behinderung nicht ins Leben zu bringen. So eine Argumentation empfinde ich als unsachlich und unfair, zumal ich persönlich nicht nur theoretisch der Meinung bin, dass Behinderte gefördert werden sollten, sondern weil ich auch schon aktiv etwas getan habe – im Rahmen meiner beschränkten Möglichkeiten.

    Abschließend daher nochmals:
    1) Entgegen deiner Ansicht meine ich, dass Eltern weiterhin das Recht haben sollten, über eine Abtreibung im Rahmen der derzeitigen gesetzlichen Regelung frei zu entscheiden. Die Gefahr, dass demnächst kranke Menschen getötet werden, sehe ich dabei nicht.
    2) Ob ein Leben lebenswert ist oder nicht, entscheidet nur der betroffene Mensch selbst. Solange er noch nicht entscheiden kann – als Fötus – müssen die Eltern entsprechende Entscheidungen treffen. Diese Entscheidungen sind zu respektieren.
    3) Wenn sich jemand entscheidet, einen behinderten Fötus nicht auszutragen, ist das aus meiner Sicht ethisch in Ordnung. Anhängig von Schwere der vermutlichen Erkrankung und dem Fortschritt der Schwangerschaft ist das immer im Einzelfall zu entscheiden.
    4) Geborene kranke / behinderte Menschen sollten bestmöglich unterstützt und betreut werden.

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